5% Nichtwohnnutzung

PROJEKTBESCHREIBUNG:

Ausgangslage

Wohnungsbau ist in Zeiten wachsender Städte ein zentrales Thema. Die Anzahl der Wohnungen, die in den nächsten Jahren in den Ballungszentren geschaffen werden müssen, wird stetig nach oben korrigiert. Die Folge daraus sind immer größere Wohnbauprojekte. 500 Wohnungen und mehr, die von einem Bauträger an einem Ort für tausende Menschen errichtet werden, sind 2018 in Graz, Wien und anderen Landeshauptstädten keine Besonderheit mehr. Große Wohnsiedlungen sind seit der Nachkriegszeit an sich keine Seltenheit, das Tempo der Errichtung und die immer größere Ausdehnung von Wohngebieten in Stadtrandlagen ist für Österreich jedoch neu.

Städtebauliche Projekte seit der Moderne präferierten Gebiete mit einheitlichen Nutzungen und klarer Funktionstrennung. Diese Einstellung war nicht neu, sondern rührte von der Idee der Gartenstadt her. Verständlicherweise möchte Niemand neben Industrieanlagen wohnen oder direkt an einem Bahnhof, aber nicht alle urbanen Funktionen sind mit dem Wohnen per se inkompatibel. Mittlerweile muss man diese Einstellung, auch aufgrund der massiven Belastung unserer Städte durch erhöhtes Verkehrsaufkommen, überdenken und sollte die Auswirkungen solcher reinen Wohngebiete etc. nicht unterschätzen. Anhand internationaler Beispiele (zB. Banlieus Paris, Husby Stockholm) können die Zustände in großen monofunktionellen Wohngebieten, die oft durch Isolation zu sozialen Brennpunkten werden, auch in den Medien verfolgt werden. Dort sind die Probleme durch mangelnde Nutzungsdurchmischung allgegenwärtig.

Wie gehen wir mit diesen, bei uns verhältnismäßig wenig diskutierten, aber immer aktuellen Problemstellungen um?

In vielen Projekten werden neuerdings bereits in den Wettbewerbsausschreibungen (sofern Wettbewerbe abgehalten werden) die Wohnfunktion ergänzende Nutzungen vorgeschrieben. In Graz Reininghaus beispielsweise inkludieren die Ausschreibungen der Wohnquartiere meist die Forderung nach mindestens 5% Nichtwohnnutzung. Genauer gesagt müssen 5% der Nutzflächen gem. Stmk.WBFGes. 1993 i.d.g.F, §2 Pkt.7 mit anderen Funktionen als Wohnen belegt werden. In manchen Fällen werden konkrete Nutzungen vorgegeben, welche unterzubringen sind, z.B. Kinderbetreuungseinrichtungen, Handel, Gewerbe.

Inhalt

Wir wollen anhand bereits gebauter und bewohnter Beispiele herausfinden, ob es sich bei einer Durchmischung von 95% zu 5% um funktionierende, belebte Mischquartiere handelt, oder ob andere Verhältnisse zielführender wären. Kann die gesellschaftliche Funktion der Durchmischung mit einem Prozentsatz fixiert werden oder sind solche Zahlen willkürlich? Wie kommt es in Graz zur Benchmark von 5% Nichtwohnnutzung, wenn z.B. die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen einen Mindestwert von 10% für die Entstehung durchmischter Quartiere nennt, und das in Kombination mit wesentlich höheren Bebauungs- und Bevölkerungsdichten auf größeren Mindestflächen, als sie bei uns üblicherweise geplant und errichtet werden?[1]

Welche Auswirkungen hat eine derart geringe Heterogenität auf das Leben der Menschen in diesen Quartieren? Welche Formen nimmt das Leben in reinen „Schlafquartieren“ an? Wie sehen die „anderen“ Nutzungen aus? Wer nutzt diese? Haben sie einen Mehrwert? Hat die geringe Durchmischung einen direkten Anteil an der Entstehung sozialer Brennpunkte? Inwiefern reagieren die BewohnerInnen selbst auf die oft fehlenden Nahversorger etc. oder ist das Leben in reinen Schlafstätten bereits völlig selbstverständlich geworden? Was bedeutet das Fehlen von bestimmten Zusatznutzungen im Wohnumfeld für die Funktionsweise der Stadt? Welche Bedeutung kommt der Nutzungsmischung in der sich wandelnden Gesellschaft zu? Wo lerne ich meine Nachbarn kennen, wenn es kein Cafè und keinen Laden mehr gibt? Wo sind die Grenzen zwischen Wohnsiedlung, Nachbarschaft und Quartier zu orten?

Kann Nachbarschaft und Nachbarschaftlichkeit überhaupt noch entstehen, wenn es keine gemeinsamen Wege und Treffpunkte gibt? Wodurch entstehen sie sonst?

Wir werden archetypische Siedlungen im Rahmen von Touren vor Ort aktiv und aktionistisch erkunden. Mit Besuchergruppen werden wir unangemeldet in die (Privat)Sphären der Schlafstädte eindringen und oben aufgeworfene Fragen mit den NutzerInnen, den BetreiberInnen der Nichtwohnnutzungen und den BewohnerInnen vor Ort besprechen. Durch Hintergrundinformationen von Peers (ArchitektInnen, ErrichterInnen, sonstige lokale „KennerInnen“ der Siedlungen) werden die eigenen Wahrnehmungen ergänzt und weiter hinterfragt werden. Interessierten Menschen soll die Bedeutung dieser Nutzungen, deren Funktionsweise und die Art ihrer Entstehung oder Initiation näher gebracht werden. Durch die Erkundung in der Gruppe soll ein breiteres Bild und Eintauchen in die Szenerie ermöglicht werden. Fotos und Videoschnipsel die während der Touren entstehen sollen ein möglichst direktes und unmittelbares Bild zeichnen. Alle Teilnehmer sind eingeladen ihre Beobachtungen festzuhalten und in die Dokumentation einzubringen.

Als Objekte der Erkundung und Erforschung dienen verschiedene Wohnsiedlungen in allen 17 Bezirken der Stadt Graz, sowie am Übergang zwischen Stadt und Umland, die sich durch ihre unterschiedlichen Bauweisen und Alter auszeichnen, aber auch durch die verschiedenen Mischungsverhältnisse ihrer Nutzungen. Anhand dieser sehr verschiedenen Beispiele soll die Bedeutung der Heterogenität unabhängig von anderen Faktoren wie z.B. des sozialen Gefüges und der umgebenden städtebaulichen Situation untersucht und im Rahmen einer Dokumentation (Website, Print und Ausstellung) zugänglich gemacht werden.

Ziel

Ziel des Projekts ist die intensive und direkte Auseinandersetzung mit den realen Ausformungen der festgesetzten Richtwerte für Nutzungsmischungen. Was sind diese „anderen Nutzungen“ und was bedeuten sie für die Nutzer der umgebenden Wohnbebauung? Kann man bei 5% überhaupt schon von Mischnutzung sprechen, oder müsste der Anteil der wohnfremden Nutzungen höher sein? Warum werden die zusätzlichen Nutzungen „wohnfremd“ genannt, wenn sie in Wahrheit von der Fachcommunity als essentiell für funktionierende Nachbarschaften angesehen werden? Ab welchem Verhältnis kann man von einem urbanen Quartier sprechen, wann handelt es sich um eine Wohnsiedlung, die nur als Bettenstadt funktioniert? Ab welchem Durchmischungsgrad funktioniert soziale Interaktion, ab wann soziale Kontrolle? Welchen Einfluss hat die vorhandene oder nicht vorhandene Heterogenität auf die Menschen, die in diesen Siedlungen wohnen? Fühlt man sich als BesucherIn als Eindringling / Fremdkörper oder gibt es eine Zone der Öffentlichkeit, in der man nicht weiter auffällt und sich willkommen fühlt? Gibt es Gemeinsamkeiten/ Besonderheiten die alle diese Nebennutzungen und Ihre Betreiber vereinen?

Was können wir daraus für zukünftige Planungen und städtebauliche Projekte lernen?

Die Ergebnisse werden nicht wissenschaftlich empirisch erarbeitet, sondern angelehnt an die Methode der Psychogeografie aus individueller Wahrnehmung bzw. aus der Gruppenwahrnehmung, psychischem Erleben und Verhalten in Form von subjektiven Momentaufnahmen (Fact-Finding-Mission = Erkundungstrip + Gruppenexkursion und Interaktion mit den BewohnerInnen) generiert, zur Diskussion gestellt und aufgezeichnet.

Realisierungsindikatoren

Sämtliche Führungen/Touren werden fotografisch und/oder filmisch dokumentiert, kartographiert und über eine Webseite veröffentlicht. Interviews, Fotos, Berichte der TeilnehmerInnen der Touren, aber auch empirische Hintergrundinformationen werden Teil der Dokumentation sein. Sofern ausreichende finanzielle Mittel vorhanden sind, wird das Projekt auch im Rahmen einer Ausstellung und Printdokumentation veröffentlicht werden.

Das Projekt im Herbst 2018 dient als Einstieg in eine längerfristige Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der immer homogeneren Quartiere.

Ablauf und Zeitplan

Eine erste Erkundungstour/Fact-Finding_Mission und Kontaktaufnahme mit Auskunftspersonen (Peers) erfolgt als inhaltliche Projektanbahnung und Testlauf bereits im Juni 2018. Die detaillierte Aufbereitung und Ausarbeitung des eigentlichen Tourprogramms ist für September 2018 geplant. Führungen/Touren mit Gastkommentaren unter Einbeziehung von Peers sind ab Ende September geplant. Danach wird die inhaltliche Aufbereitung und Dokumentation des Projekts bis Ende November 2018 erfolgen, sowie nach Maßgabe der finanziellen Mittel auch die Ausstellung.

Die Touren werden jeweils im Rahmen eines Tagesprogramms mittels öffentlichen Verkehrsmitteln abgehalten. Die Gruppengröße wird zwischen 5 und 25 Personen liegen, eine Selektion der TeilnehmerInnen gibt es nicht. Die Teilnahme ist öffentlich und kostenlos, für Verpflegung und Tickets werden die Teilnehmer selbst sorgen. Als Peers/Kommentatoren werden PlanerInnen, AnrainerInnen und NutzerInnen aber nach Möglichkeit auch Verantwortliche der Stadtplanung und InvestorInnen geladen werden.

Gemeinsam werden die Siedlungen besucht und aktiv erkundet bzw. versucht werden, Kontakt zur BenutzerInnen herzustellen um möglichst viel über das Zusammenleben in Erfahrung zu bringen. Dabei werden die BesucherInnen wie eine Gruppe TouristInnen vorerst als Fremdkörper im Siedlungsinneren abgestellt und sollen sich durch eigene Beobachtungen an den lokalen Verhaltenscode annähern. Besonderes Augenmerk wird auf die Erkundung der Funktionalität und Wirkung der öffentlich zugänglichen Nichtwohnnutzungen als Katalysator für eine lebendige Nachbarschaft gelegt, insbesondere Gastronomie und Handel.

Eine Tour ist terminlich bereits festgelegt. Sie wird am 29.9.2018 im Rahmen des Architektursommers stattfinden und um 11Uhr vor dem Haus der Architektur starten.

Bereits fixierte Objekte der Erkundung (die auch im Rahmen der Touren besucht werden sollen) sind folgende Siedlungen, die im Zuge der Projektrecherchen weiter ergänzt werden:

  • Am Arlandgrund (Andritz)
  • Terrassenhaussiedlung (St. Peter)
  • Eisteichsiedlung (Waltendorf)
  • Eggenberger Gürtel 71
  • Wohnpark Gösting
  • Messequartier(Jakomini)
  • GreenCity (Straßgang)
  • Brauquartier (Puntigam).

Für weitere Touren außerhalb von Graz sind wir derzeit auf der Suche nach geeigneten Bus-/ Bahnverbindungen und Objekten.

Projektinitiative und Projektträgerschaft:

DI Dr. Ida Pirstinger:
Studium der Architektur an der Technischen Universität Graz;

bis 2007 Mitarbeit in Architekturbüros in Graz, Wien und Salzburg; seit 2003 Lehrtätigkeit an der Technischen Universität Graz und an der Fachhochschule Salzburg; 2007-2013 Universitätsassistentin am Institut für Gebäudelehre der TU Graz, Promotion in den Fachbereichen Gebäudelehre und Städtebau über die Nachverdichtung von innerstädtischen Quartieren; 2016 Researcher an der TU Wien; seit 2014 freiberufliche Wissenschaftlerin und Konsulentin mit den Forschungsschwerpunkten Stadtentwicklung, urbane Nachverdichtung, Stadt- und Gebäudetypologien, methodische, typologische und prozessuale Ansätze zur nachhaltigen Stadtentwicklung.

Mitarbeit:

DI Birgit Schiretz:
Matura und Meisterklasse an der HTBLA Ortwein für Kunst und Design, in der Fachsparte Plastische Formgebung, währenddessen Teilnahme an verschiedenen Ausstellungen und Wettbewerben, sowie verschiedenen privaten künstlerischen Projekten; Studium der Architektur an der Technischen Universität Graz; währenddessen Studienassistentin am Institut für Gebäudelehre; Mitgestaltung verschiedener Ausstellungen und Veranstaltungen im Zuge der Institutstätigkeit; Installation im Zuge des Projekts: Zone 101, Kunst im öffentlichen Raum Graz 2007; 2012 Diplom: Gries Works Green, Entwicklung eines nachhaltigen Stadtquartiers, bis September 2017 Projektleiterin im Architekturbüro Gangoly & Kristiner Architekten ZT GmbH; im Zuges des Architektursommers 2015 Veranstaltung von Führungen zum Thema Architektur im Hintergrund gemeinsam mit DI Eva Maria Hierzer; Gründerin der Vernetzungsplattform www.architekturarbeit.at und des Unternehmens aufputz – Werbeagentur DI Birgit Schiretz.

DI Dominik Johannes Weißenegger:

Matura an der HTBLA Wolfsberg für Wirtschaftsingenieurswesen. Während der Schulzeit Ausbildung zum Saxophonisten und Mitglied diverser Ensembles und Bands; Studium der Architektur an der Technischen Universität Graz, währenddessen Studienassistent am Institut für Gebäudelehre; Mitgestaltung verschiedener Ausstellungen und Veranstaltungen im Zuge der Institutstätigkeit. Gründer des Kunst- und Kulturvereins Omnii; Organisation und Gestaltung von Kunstinstallationen im Zuge des Studiums und der Vereinstätigkeit; 2014 Diplom mit Auszeichnung: Neues Quartier Steyrergasse – Reboot the mission; 2014-2015 selbstständige Tätigkeit für verschiedene Architekturbüros; seit 2015 erfolgreich in der Wettbewerbsabteilung bei balloon architekten ZT-OG tätig.


[1] DGNB – Deutsche Gesellschaft für nachhaltiges Bauen (2018): Zertifizierungsvoraussetzungen für Quartiere, in:
http://www.dgnb-system.de/de/zertifizierung/zertifizierungsvoraussetzungen/#Quartiere; (Stand 27.3.2018)